“Lügen über meine Mutter” von Daniela Dröscher
erschienen am 18.08.2022 im Verlag Kiepenheuer und Witsch
umfasst 448 Seiten
Klapptentext:
Daniela Dröscher erzählt vom Aufwachsen in einer Familie, in der ein Thema alles beherrscht: das Körpergewicht der Mutter. Ist diese schöne, eigenwillige, unberechenbare Frau zu dick? Muss sie dringend abnehmen? Ja, das muss sie. Entscheidet ihr Ehemann. Und die Mutter ist dem ausgesetzt, Tag für Tag.
So hat es mir gefallen:
Deutschland in den 80er Jahren in einem Dorf in Rheinland-Pfalz. Hier wird der/ die LeserIn Zeuge einer Familiengeschichte, einer besonderen Familiendynamik, alles aus der Sicht der kleinen Tochter erzählt. Ein Vater dem das Außen immer wichtiger zu sein scheint, als die Menschen in seinem Umfeld. Fest macht er die eigenen Unsicherheiten am Gewicht seiner Frau. Er will eine Ehefrau die “vorzeigbar” ist und deshalb ist das Abnehmen der Mutter immer wieder Thema und Dreh- und Angelpunkt der Familienkommunikation.
Andrea Dröscher gelingt, in einer Art “Kammerspiel”, den Fokus auf die eigene Familiendynamik zu legen. Dabei werden die 80er Jahre sehr lebendig.
Für mich war das Buch eine echte Herausforderung, da es mich stark “getriggert” hat. Meine Familiengeschichte hat sehr ähnliche Züge. Vieles kam mir teilweise bis auf den Wortlaut sehr bekannt vor.
Die vermeintliche “stille” Mutter und die stille Aggression, die so oft spürbar ist, ist wahrscheinlich ziemlich klassisch für diese Zeit. Auch das Aufkommen der “Diätkultur” ist mir allzu bekannt. Ich wurde mit 12 Jahren zum ersten Mal mit zu den Weight Watchern genommen. Die im Buch erwähnte Kalorientabelle war bei uns, wie wahrscheinlich in so vielen Haushalten dieser Zeit, immer sichtbar. Die 80er Jahre mit den aus USA überschwappenden Diäten und Fitnessvideos, markiert sicher einen Punkt, an dem das Aussehen einen neuen Stellenwert erhalten hat. Dünnsein als Zweck und als “Vorzeige-Wert” hat viele Frauen unter “Zugzwang gebracht.
Wie der Vater in dem Buch das Gewicht der Mutter instrumentalisiert, um sich ihrer zu bemächtigen, macht hier eine ganz andere Form der Unterdrücken deutlich. So muss sie sich beispielsweise vor ihm wiegen und er kontrolliert. So viel Demütigung in einer Handlung ist schon schwer zu ertragen.
Häufig wird das Buch auch mit dem Wort “Humor” beschrieben. Das kann ich gar nicht nachvollziehen. Wenn man allerdings so ein Aufwachsen in solchen Strukturen glücklicherweise nicht kennt, kann ich mir vorstellen, dass die Verhaltensweisen und Dynamiken ggf. absurd wirken.
Die Intensität bekommt der Roman durch die Erzählform durch das Kind. Als LeserIn möchte man am liebsten das Kind beschützen, was der Autorin dann mit den “Reflektionskapiteln” auch sehr gut gelungen ist. Diese Kapitel geben eine Reflektion und teilweise “Aufarbeitung” der beschriebenen Situationen. Ein interessantes Stilmittel.
Ich hatte das Glück, im Rahmen des Bloggertreffens des KiWi-Verlags, Daniela Dröscher live zu erleben. Spannend, dass sie die Passagen “der erwachsenen Reflektion” eigentlich erst im nachhinein eingefügt hat. Auch waren die Autorin und der Lektor sich unsicher, ob es tatsächlich funktionieren wird. Für mich bringen diese Passagen die entscheidende Tiefe in das Buch. Es ist schwer vorzustellen, wie der Text wirkt, beschränkt auf die kindliche Sicht, und ob der weitreichende Einfluss dieser Familiendynamik so transportiert worden wäre.
Vielleicht stimmt es gar nicht, dass mich dieses familiäre Kammerspiel nicht loslässt, weil ich Schriftstellerin geworden bin. Vielleicht muss ich den Satz umdrehen. Vielleicht habe ich überhaupt nur angefangen zu schreiben, weil ich als Teil dieses Kammerspiels aufgewachsen bin.
Seite 114
Die Figuren der Eltern sind fest in ihren Rollenmustern verhaftet. Der Vater, innerlich eher unsicher, ist mit seiner Überheblichkeit und Übergriffigkeit der Mutter gegenüber, ein schwer auszuhaltender Charakter. Die Mutter ist einerseits Passiv und gleichzeitig aufopfernd und sicher auch ein wirklich gutes Bild für viele Frauen dieser Zeit.
Mir hat gut gefallen wie die “Aufstiegszeit” dieses Jahrzehnts mit eingeflossen ist. Der große Aufstieg der Tennisclubs, duch Boris Becker und Steffi Graf, sowie die Entstehung der Neubaugebiete, das ist mir auch noch gut im Gedächtnis.
Fazit:
“Lügen über meine Mutter” ist ein intensiver Roman über das Rollenverständnis und Familiendynamiken der 80er Jahre.
Für mich war es kein humorvoller Roman, sondern ein Eintauchen in eine Zeit und in eine Atmosphäre, die “Betroffenen” solcher Dynamiken lange nachhängt. Sehr gut erzählt mit tollen Stilmitteln und ein wirklich gelungens Zeitporträt, gekonnt zum Leben erweckt durch entsprechende “Redewendungen” und viele “Erinnerungen” an Dinge dieser Zeit.
Nicht umsonst für den Buchpreis 2022 nominiert! Eine Leseempfehlung.
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