Aktuell habe ich relativ viel Stress im Job und da ich abends dann ziemlich müde bin, komme ich wenig zum lesen. Mein Weg zur Arbeit hat eine Fahrtzeit von ca. 25 Minuten, die ich perfekt eignet, um das Nicht-Gelesene zu hören. Ich nutze mein Audible Abonnement momentan ziemlich gut, um die Bücher, die ich eigentlich lesen wollte, jetzt auf meinen Fahrten und beim Kochen oder Bügeln zu hören.
Gerade habe ich „Deutsches Haus“ von Annette Hesse beendet. Titel und Buchcover hatten mich zunächst gar nicht angesprochen. Das eigentliche Romanthema war mir auch gar nicht bewusst. Dann habe ich im Radio ein Interview mit Annette Hesse gehört und war von Ihr begeistert.
*Dieser Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit audible*
Von Annette Hess
Erschienen bei Ullstein
Roman
umfasst 368 Seiten
Erschienen: 21.09.2018
Hörbuch
Gelesen von Eva Meckbach
Klappentext:
Frankfurt 1963. Eva, gelernte Dolmetscherin und jüngste Tochter der Wirtsleute Bruhns, steht kurz vor ihrer Verlobung. Unvorhergesehen wird sie gebeten, bei einem Prozess die Zeugenaussagen zu übersetzen. Ihre Eltern sind, wie ihr zukünftiger Verlobter, dagegen: Es ist der erste Auschwitz-Prozess, der in der Stadt gerade vorbereitet wird. Eva, die noch nie etwas von diesem Ort gehört hat, folgt ihrem Gefühl und widersetzt sich ihrer Familie. Sie nimmt die Herausforderung an, ohne zu ahnen, dass dieser Jahrhundertprozess nicht nur das Land, sondern auch ihr eigenes Leben unwiderruflich verändern wird.
So hat es mir gefallen:
„Deutsches Haus“ ist der erste Roman von Annette Hess. Sie hat allerdings bereits sehr erfolgreich Drehbücher geschrieben unter anderem „Die Frau vom Checkpoint Charlie“ oder auch für die Fernsehserie “Weissensee“. Diese Erfahrung merkt man direkt, denn der Roman liest/ hört sich ganz wunderbar. Man ist direkt im Geschehen drin und gefesselt von der Geschichte.
Die Protagonistin Eva befindet sich gerade in der Entscheidung zu Heiraten und ist sich nicht wirklich sicher, ob der Mann, der um sie wirbt der „Richtige“ ist. Durch einen Zufall bekommt sie die Chance beim ersten Auschwitz-Prozess zu dolmetschen. In kürzester Zeit ändert sich ihr Leben und die Frage taucht auf, welche Rolle hatte ihre Familie in der Kriegszeit?.
Zeitgeist der 60er Jahre
Der Roman spielt in den 60er Jahren in Deutschland und transportiert den Zeitgeist sehr gut. Alles befindet sich wieder im Aufbau, jeder strebt nach dem nächsten Erfolg und die dunkle Vergangenheit wurde zum größten Teil verdrängt. Auch gerade das Frauenbild dieser Zeit wird sehr gut vermittelt. Eva soll froh sein, dass ein erfolgreicher Geschäftsmann sie heiraten will. Ihre beruflichen Ambitionen werden nicht gerne gesehen. Ihr Verlobter möchte eine Frau „die sich führen und steuern lässt.“ So geht er auch zum leitenden Staatsanwalt und verlangt, dass eVa nicht mehr als Übersetzerin arbeitet. Die Staatsanwaltschaft muss dies befolgen, sonst würde sie sich strafbar machen. Eva ist empört, löst die Verlobung auf und kann erst dann wieder arbeiten. Als alleinstehende junge Frau wird sie aber eher skeptisch beäugt. Man kann sich kaum vorstellen, dass es erst 50 Jahre her ist, dass man als Frau kaum Rechte hatte.
Atmosphäre des Nachkriegsdeutschlands
Die Atmosphäre des Nachkriegsdeutschlands ist in „Deutsches Haus“ sehr gut eingefangen. So salutieren die Gerichtsdiener immer noch vor den Angeklagten und man erhält eine Ahnung von den Seilschaften der „ehemaligen“ Nazis, die immer noch Bestand hatten. Der „Nazi-Geist“ bliebt ja in Deutschland leider in vielerlei Hinsicht erhalten, da viele Rechtsanwälte, Richter, Beamte und auch Ärzte in Ihren Jobs verblieben.
Ein sehr gute Film zu diesem Thema ist auch „Der Staat gegen Fritz Bauer“ und auch das Hörbuch „Fritz Bauer – Sein Leben, sein Denken, sein Wirken“
Neben der allgemeinen Atmosphäre wird aber auch das Augenmerk auf die innerfamiliären Geschichten gelegt.
Ein Nebenstrang betrachtet Evas Schwester, die als Kinderkrankenschwester arbeitet, dort Säuglinge versorgt und auch Täterin ist.
Welche Rolle hatten Evas Eltern in der Nazizeit?
Welche Schädigungen haben ihr Verlobter und dessen Familie in dieser Zeit erfahren?
Welche Auswirkungen haben die Kriegsgeschehnisse auf das Verhalten der einzelnen Personen?
Wie schwer ist es „den Mantel des Schweigens und der Verdrängung“ zu lüften und für welchen Preis?
Es wird aufgezeigt, dass der monströse Umgang mit Menschen und Menschenleben nicht nach 1945 geendet hat, sondern wie stark die Schädigungen der Beteiligten auch in subtiler Form fortbestehen.
Das Leben mit der Schuld
Die Zeugenaussagen, die Eva von den polnischen KZ-Häftlingen übersetzen muss, lassen keinen Interpretationsspielraum. Eva erlebt diese Menschen, die alles verloren haben und größten Grausamkeiten ausgesetzt waren. Sie erfährt den ganzen Schrecken, den sie vorher gar nicht kannte.
Wenn bestimmte Wahrheiten aufgedeckt werden, kann man nicht mehr zurück und muss sich positionieren. Das erkennt Eva nach und nach in diesem Roman. Es ist aber auch die grundsätzliche Frage, die sich der Leser stellen muss. Wie geht man mit den Taten der Angehörigen um bzw. hätte man selbst anders gehandelt? Wäre man selbst mutiger gewesen?
Ein Buch, das indirekt solche Fragen stellt ist wichtig.
Fazit:
Annette Hess hat einen brillianten Roman geschieben, der ein schwieriges Thema sehr lesenswert macht und viel Zeitgeist transportiert. Ihr ist ein hervorragendes Ende gelungen.
Ich hätte mir im Nachhinein vielleicht einen anderen Buchtitel gewünscht, weil er meines Erachtens vieles verschenkt, was der Roman an Potential beinhaltet.
Eva Meckbach liest das Hörbuch ganz wunderbar. Mit Ihrer ruhigen und bedachten Stimme gibt Sie dem Buch die entsprechende Tiefe.
Weitere Bücher zu diesem Thema findet Ihr hier auf dem Blog unter der Kategorie “#Wider das Vergessen“, aktuell auch zu “Stella” von Takis Würger und “Wo wir zu Hause sind” von Maxim Leo.
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